Deutschland

Die einsamen Toten Deutschlands

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Der November ist in Deutschland ein Monat des Gedenkens an die Verstorbenen, den Abschluss bildet der Totensonntag. Doch gerade in deutschen Großstädten gibt es immer mehr Menschen, die ohne Angehörige bestattet werden.

“Ruhesteine” auf dem Friedhof Gelsenkirchen-Buer im Ruhrgebiet

Niemand hat ihn vermisst. Erst nach mehr als acht Monaten wurde der Leichnam eines mit nur 46 Jahren verstorbenen Mannes gefunden – in seiner Wohnung mitten in Gelsenkirchen, einer Großstadt im Ruhrgebiet. Wenn die evangelische Pastorin Zuzanna Hanussek davon erzählt, wird ihre sonst so lebhafte und energische Stimme viel leiser. “Ich bin erschüttert, dass selbst die Nachbarn oft nichts wahrnehmen oder völlig gleichgültig sind. Es gibt immer mehr Menschen, die aus unserer Gesellschaft verschwinden – ohne dass es jemanden interessiert. Nicht nur im Tod haben sie keine Aufmerksamkeit von anderen bekommen, sondern auch im Leben”, sagt die Pfarrerin im DW-Interview.                    

Keine Angehörigen und Freunde am Grab

Zuzanna Hanussek kennt nur den Namen und die Adresse dieses einsamen Mannes aus Gelsenkirchen. Kein Angehöriger, kein Freund oder Bekannter war zu finden, selbst die Nachbarn konnten oder wollten nichts Weiteres über den Verstorbenen sagen. Umso wichtiger ist es der evangelischen Pastorin, dass auch er würdevoll verabschiedet wird: Gemeinsam mit einem katholischen Pfarrer hat sie die Urne mit seiner Asche auf dem Friedhof in Gelsenkirchen-Buer bestattet – im Rahmen einer “ordnungsamtlichen Bestattung”. Hinter diesem trockenen bürokratischen Begriff stecken oftmals tragische Schicksale wie das des 46-Jährigen aus Gelsenkirchen: Es geht um Beerdigungen, die vom Ordnungsamt der jeweiligen Kommune finanziert werden. Der Bestatter wird nicht von den Angehörigen des Verstorbenen beauftragt und bezahlt, sondern vom Ordnungsamt.   

Bundesweite Statistiken zu dieser Art von Bestattungen gibt es zwar nicht, erläutert Stephan Neuser, Generalsekretär des Bundesverbandes Deutscher Bestatter, im Gespräch mit der DW: “Dadurch, dass mehr als 81 Prozent der Bestatter in Deutschland Mitglieder unseres Verbands sind, haben wir aber einen Überblick darüber, dass es immer mehr Ordungsamtsbestattungen gibt.”


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Das Leben ist endlich

    Im Jahr 2016 starben in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 911.000 Menschen. Es gibt etwa 32 Millionen Erdgräber auf mehr als 32.000 Friedhöfen. Doch die Bestattungskultur hat sich hierzulande stark verändert: Die “Gottesäcker” werden zunehmend eingeebnet und erinnern – mit weiten Rasenflächen zwischen immer weniger Erdgräbern – häufig an Parks.


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Trend zur Feuerbestattung

    Mittlerweile geht der Trend bundesweit, vor allem in Städten, immer mehr zur Feuerbestattung und Beisetzung im viel kleineren, günstigeren Urnengrab. Die Laufzeit ist kürzer und der Pflegeaufwand geringer. Bei Bestattungen unter Bäumen im “Friedwald” oder bei anonymer Bestattung fällt er sogar ganz weg. Bei der Feuerbestattung muss zusätzlich zur Urne ein spezieller Feuersarg gekauft werden.


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Das passende Gefäß

    Die Asche eines Verstorbenen wird in eine Kapsel gefüllt, die dann – oft aus dekorativen Gründen – in eine Schmuckurne aus Metall, Holz, Keramik, Granulat oder einem biologisch abbaubarem Material hineingesetzt wird. Als erstes Bundesland hat Bremen den Friedhofszwang inzwischen abgeschafft: Seit 2015 darf dort die Asche von Verstorbenen auch auf privaten Grundstücken verteilt werden.


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Zurück zu den Wurzeln

    Eine Alternative zum Urnengrab ist die Baumbestattung auf dem Friedhof oder in einem Bestattungswald, der ausdrücklich als Friedhofsgelände deklariert ist. Die Bestattung erfolgt – in etwa achtzig Zentimetern Tiefe – im Wurzelbereich der Bäume. Es gibt keine Kerzen, Blumen oder Fotos – denn individuelle Pflege ist nicht erwünscht. Diese Art der Bestattung gibt es in Deutschland seit 2001.


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Aufbahrung

    Die Aufbahrung Verstorbener im offenen Sarg – im amerikanischen Sprachgebrauch “public viewing” genannt – ist in Deutschland weniger gang und gäbe als in anderen Ländern. Auch von einem Thanatopraktiker vorgenommene Einbalsamierungen sind hierzulande zwar möglich, aber kaum üblich.


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    “Do-It-Yourself”-Sarg

    Ein fertiger Sarg kostet ab 1.000 Euro aufwärts. Mit vier Quadratmetern Holz, Zeit und Geschick kann man für wenige hundert Euro seine letzte Ruhestätte aber auch selbst bauen. Entsprechende Kurse werden immer wieder angeboten (siehe Bild, Kursleitung in einem Berliner Hospiz). Oft nutzen die Hobby-Handwerker den Sarg zunächst als Regal – weit mehr als eine interessante Erfahrung.


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Begräbnis- und Trauerkultur im Museum

    Wie haben sich die Menschen früher mit Tod und Sterben auseinandergesetzt? Mit dem Thema Bestattung, Friedhof, Trauer und Gedenken beschäftigt sich das “Museum für Sepulkralkultur” in Kassel. Einzigartig in Deutschland, widmet sich das Museum seit 1992 dem “Tod in allen seinen Facetten”. Im Hof steht eine Prunkleichenwagenkutsche von 1880 neben einem Leichenwagen von 1978.


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Löten und Gestalten

    Seit 2005 hat die Bestatterbranche im fränkischen Münnerstadt ihr eigenes Bundesausbildungszentrum. Die Ausbildung zur Bestattungsfachkraft gibt es in Deutschland erst seit 2003. In Münnerstadt wird während der dreijährigen Ausbildungszeit der Umgang mit Verstorbenen und dem Tod geübt. Sogar aus China und Russland kommen Bestatter zu internationalen Seminaren in das deutsche Zentrum.


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Solides Handwerk

    Auf Deutschlands erstem Übungsfriedhof in Münnerstadt, angelegt 1994 vom Bayerischen Bestatterverband, üben angehende Bestatter, wie man fachgerecht Gräber aushebt und Urnen herablässt. Für Bestattungsfachkräfte ist der Tod ihr ständiger Begleiter. Laut Verband verlangt der Beruf “ein hohes Maß an Verantwortung für Menschen – Verstorbene und Hinterbliebene.”


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Kondolenz und Todesanzeigen

    Bestatter decken sich gern mit Trauermarken der Deutschen Post ein, Sondermarken für Trauerkarten und Danksagungen. In Todesanzeigen in der Zeitung – manchmal sehr persönlich und kreativ, oft mit Foto – oder per persönlicher Karte werden Zeit und Datum der Beisetzung oder Trauerfeier bekannt gegeben. Außerdem, ob Blumen oder ein Kranz erwünscht sind oder lieber eine gemeinnützige Spende.


  • Ruhe in Frieden – Bestattungskultur in Deutschland

    Der Leichenschmaus

    Nach einer Beerdigung oder Trauerfeier gehen Familie, Freunde, Nachbarn und Kollegen, meist auf persönliche Einladung der Hinterbliebenen, zum Traueressen – dem sogenannten Leichenschmaus – in ein Restaurant oder Café. Traditionell gibt es Kaffee, Tee, eine Tasse Suppe, Schnittchen und Streuselkuchen.

    Autorin/Autor: Dagmar Breitenbach


Das gelte vor allem für Ballungszentren. Besonders auffällig ist die Entwicklung in Hamburg, der zweitgrößten Metropole Deutschlands: Laut einer Statistik der Hamburger Friedhöfe ist die Zahl der Ordnungsamtsbestattungen zwischen 2007 und 2017 auf mehr als das Doppelte gestiegen (über 1.200 im vergangenen Jahr). Die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung teilte auf Anfrage der DW mit, dass auch in der Hauptstadt die Zahl der ordnungsbehördlichen Bestattungen gestiegen ist, allerdings weniger dramatisch als in Hamburg – von 1.979 im Jahr 2012 auf über 2.300 im Jahr 2016. Eine Statistik des Ordnungsamts Köln zeigt eine ähnliche steigende Tendenz für die größte Metropole in Nordrhein-Westfalen: von 486 im Jahr 2007 auf 636 im vergangenen Jahr. 

Isolation und Armut 

“Der Anstieg dieser Zahlen liegt unter anderem daran, dass immer mehr Menschen ein hohes Alter erreichen, oftmals aber ganz allein sind, wenn sie sterben”, erläutert Stephan Neuser. Er erinnert aber auch daran, dass finanzielle Aspekte eine viel größere Rolle spielen als in der Zeit vor 2004, als die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für eine Bestattung getragen hatten. Zwar können bestattungspflichtige Angehörige (also Verwandte ersten Grades, die Reihenfolge wird vom jeweiligen Bundesland geregelt) mit einem sehr geringen Einkommen beantragen, dass das Sozialamt die Kosten übernimmt: Das sei dann eine Sozialbestattung, nicht eine Ordnungsamtsbestattung, erklärt Stephan Neuser.

Zu Letzterer kommt es nur dann, wenn sich innerhalb einer bestimmten Frist gar keine Angehörigen melden – oder wenn sie nicht bereit sind, sich um die Trauerfeier zu kümmern. Ordnungsamtsbestattungen sind eine Folge von Isolation und Armut, gibt die Pastorin Zuzanna Hanussek zu bedenken. Arme Angehörige würden sich manchmal scheuen, eine Sozialbestattung zu beantragen, “weil die Hürden hoch sind, es eine gewisse Zeit dauert und alle Einkommensbescheide überprüft werden müssen”. Vor diesem Hintergrund gebe es auch Angehörige, die nicht in der Lage seien, sich um die Bestattung eines Verstorbenen zu kümmern.  

Ob die Toten bei Bestattungen “von Amts wegen” anonym beigesetzt werden oder ob zumindest ein Name an sie erinnert, bleibt den Kommunen überlassen. In Hamburg gibt es seit Mitte 2014 Grabsteine für diese einsamen Verstorbenen, mit Namen und Lebensdaten. Am Totensonntag werden ihre Vornamen in der Hamburger Hauptkirche Sankt Petri feierlich verlesen, um an sie zu erinnern. Auch viele der Bestatter, die ordnungsamtliche Beisetzungen durchführen, organisieren einmal im Jahr Gedenkveranstaltungen für die einsamen Verstorbenen, sagt Stephan Neuser. In Gelsenkirchen werden die Namen dieser Toten auf sogenannte “Ruhesteine” eingraviert – die Kosten trägt aber nicht die Kommune, sondern die Initiative Ruhesteine e.V., die von Zuzanna Hanussek mitbegründet wurde und sich durch Spenden finanziert.

“Achtet mehr auf andere Menschen” 

Engagierte Menschen wie die Pastorin aus Gelsenkirchen sorgen dafür, dass die einsamsten Toten Deutschlands nicht vergessen werden. In den Predigten für diese Verstorbenen können Zuzanna Hanussek und ihr katholischer Amtskollege meistens wenig über sie sagen, weil kaum etwas über ihr Leben bekannt ist. “Aber wir appellieren in unseren Trauerfeiern und anderen Gottesdiensten an alle, mehr auf andere Menschen zu achten, in der Umgebung, in der man lebt”, sagt die Pastorin. 

Zuzanna Hanussek setzt sich für einsame Verstorbene ein – und für einsame Lebende

Die Mauern der Isolation niederreißen, damit es erst gar nicht zum einsamen Tod kommt: Dafür kann jeder etwas tun. Auch Einfaches, wie mit den Nachbarn zu reden. Um Menschen einander näherzubringen, hat Zuzanna Hanussek das Projekt “Nachbarn helfen Nachbarn” in Gelsenkirchen initiiert: “In der ersten Phase macht eine Sozialarbeiterin regelmäßig Hausbesuche, in der nächsten werden Nachbarn bewusst zusammengeführt. Wenn sie sich ein paar Mal getroffen haben, nehmen sie Beziehungen auf, aber allein tun sie das nicht.” Ein anderes Projekt, das sie gestartet hat: Ein kostenloses Cafe, in dem sich Menschen zwei Mal die Woche treffen können, die sich wegen ihrer Armut sonst nie Lokalbesuche leisten: “Damit kann man nicht die Welt retten, aber es ist ein Versuch, Menschen aus ihrer Isolation herauszuhelfen.”      

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