Politik

Gastkommentar von Dirk Metz zur Politikverdrossenheit: Wer sich informiert, darf meckern

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Beim Zeitungslesen stolperte ich dieser Tage über eine Aussage Volker Bouffiers. In einer Pressekonferenz warf Hessens Ministerpräsident fast verzweifelt die Frage auf: „Erreichen wir eigentlich noch den normalen Bürger?“ und vermutete: „Einen großen Teil dessen, was wir tun müssen, versteht kein Mensch.“

Die Klage von Politikern über die Unerreichbarkeit der Bevölkerung ist natürlich nicht neu. So wenig neu wie die Behauptung, „die da oben“, ob in Politik oder Wirtschaft, seien völlig abgehoben. Gerne wird nachgeschoben, es gebe gar keine Politikverdrossenheit, sondern nur Politikerverdrossenheit. Bei der Forderung, Politik müsse die Menschen stärker „mitnehmen“, wird jedoch ein wichtiges Prinzip außer Acht gelassen: das von Angebot und Nachfrage.

Natürlich kann Politik das Angebot an Informationen erweitern und den Zugang dazu erleichtern – nur steigt damit leider nicht automatisch die Nachfrage nach politischen Inhalten. Seit Jahren arbeitet die Politik intensiv daran, ihr Angebot vielfältiger, bunter und verständlicher zu machen, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Alles ist im Netz abrufbar, gutes Info-Material gibt es zuhauf, auf Papier wie elektronisch. Die „gute alte Bürgersprechstunde“ existiert weiterhin, in Diskussionsformaten aller Art stellen sich Politiker zu allen Themen. Mit zumeist sehr überschaubarer Resonanz. Abgeordnete sind auf allen Kanälen unterwegs, natürlich auch über Twitter, Facebook und Co., auf denen sie sich häufig mit Abfälligkeiten überziehen lassen müssen. Es gibt sogar Bundestagsabgeordnete wie Johannes Kahrs, die an manchen Tagen mehr als 200 Tweets absetzen, womit die User sein Leben quasi live verfolgen können. Kommunen greifen häufig zu direktdemokratischen Ansätzen, finden aber nur selten nachhaltigen Anklang. Nur „gegen etwas“ lässt mobilisieren.

Alle diese Erfahrungen lassen eigentlich nur zwei Schlüsse zu: Entweder ist Politik viel komplexer als noch vor 20 Jahren, oder die Leute sind heute schwer von Begriff. Ich erlaube mir aber eine dritte These: Zeit ist endlich, und viele Menschen entscheiden bewusst, sich in ihrer Freizeit nicht mühselig mit Politik zu beschäftigen. Der digitale Raum hat unzählige Alternativen geschaffen, mit denen die Bürger ihre Zeit ausfüllen können. Sie können neben dem „stinknormalen Fernsehen“ stundenlang auf Netflix für wenig Geld Serienmarathons schauen und Millionen tun es. Das Angebot in den Mediatheken oder auf Youtube endet nie – und wird genutzt. Millionen verfolgen Videos von Katzen, Hunden und sogar Igeln im Netz. Für die Politik ist das frustrierend. Und wenn diese humorvoll daherkommen will, wirkt es oft künstlich bemüht, manchmal gar affig.

Niemand verlangt, dass sich jeder Bürger Bundestagsdebatten in Dauerschleife anschauen oder Regierungserklärungen in Protokollen nachlesen soll. Aber mal gesehen zu haben, wie eine Parlamentsdebatte abläuft, wäre nicht schlecht. Auch eine Ahnung davon zu haben, was die Tätigkeit eines Abgeordneten umfasst, wie eine Regierung funktioniert, wie ein Gesetz zustande kommt, wäre schon nicht schlecht. Zu wissen, dass im Plenarsaal Plätze leer sind und die fehlenden Abgeordneten dennoch fleißig sind. Erkennen zu können, dass Fraktionsdisziplin nichts Verwerfliches ist, sondern zur Handlungsfähigkeit von Politik dazu gehört wie die Notwendigkeit, Kompromisse zu finden.

Ja, manches geht in Politik und Wirtschaft in die Hose, vom Berliner Flughafen über die Gorch Fock bis zu VW. Und natürlich haben wir alle das Recht, über Politik oder Unternehmen zu meckern. Aber in Bausch und Bogen alles über einen Kamm zu scheren ist nicht fair. Und glaubwürdig ist Kritik nur, wenn vor dem Schimpfen die Information kommt.

Ja, Politiker haben eine Bringschuld – die Bürgerinnen und Bürger müssen aber auch ihrer Holschuld nachkommen und sich informieren. Und dann dürfen sie auch schimpfen, wenn ihnen etwas nicht gefällt.

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