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Istanbuler wählen Oppositionellen zum Bürgermeister

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Ekrem Imamoglu hat es geschafft, mit schierer Willenskraft. Sein Erdrutschsieg in Istanbul ist eine Blamage für den Präsidenten. Aber zum Bürgermeister gewählt werden und als Bürgermeister arbeiten können, das sind zwei paar Schuhe. Was als nächstes kommt, das zählt.

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Istanbul (dpa) – Die türkische Demokratie lebt. Das ist vielleicht das wichtigste Resultat des Wahltags von Istanbul. Im Machtzentrum von Präsident Recep Tayyip Erdogan ist ein bis vor kurzem noch unbekannter Oppositionspolitiker zum Bürgermeister gewählt worden – zum zweiten Mal. Erdrutschartig.

Wehrhafter kann ein Votum nicht ausfallen. Trotz der Dominanz der Regierung über die weithin gleichgeschalteten Medien, trotz Schmierkampagnen und deutlichen Missfallens des Staatschefs: Die Istanbuler haben sich für Ekrem Imamoglu, Kandidat der Mitte-Links-Partei CHP, entschieden, mit 54 Prozent aller Stimmen. Der Kandidat von Erdogans AKP, Binali Yildirim, ist mit 45 Prozent unterlegen.

Es sind vorläufige Ergebnisse an diesem Sonntagabend, die Bestätigung der Wahlbehörde steht noch aus. Aber die Freude kommt augenblicklich und explosiv. Auf sozialen Medien tauchen Bilder von Feten in Flugzeugen, Tänzen auf Straßen und Jubel in CHP-Zentren auf. Es war eine Riesenerleichterung nach einer Riesenanstrengung: Bis zu sieben Wahlkampftermine hatte Imamoglu Tag für Tag seit Anfang Mai absolviert. Seine Augen waren permanent rot, die Stimme brauchte Dampfbehandlung. Mehr als 740 000 Stimmen liegen die beiden Kandidaten nun auseinander.

In der ersten Runde hatte sie nach vielen Nachzählungen zuletzt nur noch rund 14 000 Stimmen getrennt. Das hatte der AKP genügt, um das Ergebnis in Zweifel zu ziehen. Und es hatte der Wahlbehörde gereicht, um einzuknicken und die Wahl zu annullieren. Analysten wie Mehmet Ölcer vom Institut Polimetre hatten gesagt, der Abstand zwischen Imamoglu und Yildirim müsse mindestens 500 000 Stimmen betragen, um der AKP keinen Raum zu bieten, wieder Neuwahlen zu verlangen. Das ist nun passiert. Mit Platz nach oben.

Der Shootingstar Ekrem Imamoglu hat sich damit eine Empfehlung weit über die Lokalpolitik hinaus gegeben. Vielen Erdogan-Verdrossenen hatte schon sein knapper Sieg bei der regulären Kommunalwahl am 31. März Anlass zur Hoffnung gegeben, dass politischer Wandel in der Türkei möglich ist. Dass er direkt nach der verstörenden Aberkennung seines Mandats Anfang Mai gleich wieder die Ärmel aufgekrempelt hat und umgehend in den Wahlkampfmodus zurückgekehrt ist, haben viele Wähler als Schneid gewürdigt. Es kam gut an.

Sein Sieg zeigt noch etwas anderes: dass nämlich die Menschen positive Botschaften würdigen. «Her sey cok güzel olacak» (alles wird sehr gut), lautete sein Slogan. Aggression war auffällig abwesend in seinen Auftritten – ein krasser Gegensatz zur Rhetorik des Präsidenten, der den Wahlkampf in der ersten Runde mit der Dämonisierung der Gegner als Terroristen und Kriminelle dominiert hatte. Dazu kommt, dass Imamoglu als gläubiger Mann mit Wurzeln in der konservativen Schwarzmeergegend so gar kein typischer CHP-Kandidat ist und Zustimmung auch bei AKP-Wählern findet. Sein Image ist das eines Versöhners in einer polarisierten Gesellschaft.

Am Wahlabend sagt er auch gleich: «Mit diesem neuen Kapitel wird es in Istanbul nun Gerechtigkeit, Gleichheit, Liebe und Toleranz geben.» Und: Die Wahl habe nicht eine Partei gewonnen, sondern ganz Istanbul. «Bald wird sich jeder so fühlen», versprach er. «Ich werde mit Leib und Seele arbeiten, um das zu gewährleisten.» Viele sehen in ihm schon den nächsten Präsidenten der Türkei.

Die Präsidentenwahl ist nun gerade durch, mit der Wahl im Sommer 2018, und Erdogan sitzt auf Regierungsebene fest im Sattel. Die nächsten Wahlen sind erst 2023. Dass Erdogan aber die Neuwahl erzwungen hat und damit Imamoglu eine Bühne bot, auf der er größer werden konnte, war ein riskantes Spiel. Der ewige Wahl-Gewinner ist diesmal Verlierer. Das könnte neue Dynamiken auslösen.

Eine ist der Motivationsschub für die Opposition. Die inoffizielle Allianz, in der mehrere Parteien auf eigene Kandidaten verzichtet hatten, hat Imamoglu den Sieg beschert. Dazu gehörten die Kurden, die sich sonst von der CHP so gar nicht vertreten fühlen. Falls die Lektion im Zusammenhalten nachhält, könnte sie der chronisch zerstrittenen Gruppe eine ganz neue Schlagkraft verleihen.

Gleichzeitig könnten sich Unzufriedene innerhalb der AKP ermutigt fühlen. Selbst Parteigrößen wie der Ex-Premierminister Ahmet Davutoglu hatten Erdogans Strategie rund um die Kommunalwahl kritisiert. Es ist die Rede von einer neuen Partei. Das könnte eine Spaltung der AKP bedeuten – und einen Machtverlust für Erdogan.

Zum Bürgermeister gewählt werden und als Bürgermeister arbeiten können, sind allerdings zwei paar Schuhe. Mit Istanbul, wo fast 20 Prozent aller Türken leben, haben Präsident Erdogan und seine AKP eine Stadt verloren, die ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts und rund 40 Prozent aller türkischen Steuern generiert. Und genau deshalb muss Imamoglus Sieg durchaus nicht das Ende der Saga sein.

Die Regierung habe Möglichkeiten, den Oppositionsbürgermeister lahmzulegen, schrieb der Türkeiexperte Wolfango Piccoli von der Denkfabrik Teneo kurz vor der Wahl. Präsident Erdogan könnte zum Beispiel «seine Kontrolle über die Zentralregierung nutzen, um (…) die finanziellen Ressourcen der Stadtverwaltung einzuschränken».

Erdogan zeigte sich am Abend als guter Verlierer. Er gratulierte Imamoglu zum Sieg. Er hat allerdings auch erst vor kurzem gesagt, Imamoglu könnte nach der Wahl wegen Beleidigung eines Gouverneurs angeklagt werden. Ein entsprechendes Urteil könne ihn durchaus daran hindern, sein Amt wahrzunehmen. Was als nächstes kommt, das zählt.

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